DIE FRAU DES ANWALTS…

Sie war ein Energiebündel, kapriziös, außerordentlich lebenshungrig und attraktiv, die schon früh zur Vollwaise gewordene Alice Schachmann. Zweiundzwanzigjährig heiratete sie 1927 den mehr als doppelt so alten prominenten Anwalt Alfred Apfel. Ihr Leben bis zum Ende der Weimarer Republik gleicht einer “Bohème-Bilderbuch-Reise”. 1929 lernte Alice, von ihren Freunden “die Äpfelin” genannt, über ihre Freundin Mopsa Sternheim den französichen Surrealisten Paul Éluard kennen. Mit ihm erlebte “La Pomme” zwei Jahre eine Amour fou, während seine Ehefrau Gala mit Dali zusammenlebte. Im Frühjahr 1930 reisten sie zusammen mit André Breton in die Provence zu René Char. Éluards Freund Man Ray portraitierte die junge Frau. 1931 lernte sie auf Hiddensee den jungen Komponisten Franz Wachsmann kennen, mit dem sie 1933 nach Paris flüchtete und später nach Hollywood, wo Franz Waxman, wie er sich inzwischen nannte, zu einem der erfolgreichsten Filmkomponisten des zwanzigsten Jahrhunderts wurde.

1  Ein Bohème-Bilderbuch mit »La Pomme«, der Frau des Anwalts, in der Hauptrolle.
2 – 3  Alice Apfel und Paul Éluard besuchen im Frühjahr 1930 Éluards Künstlerfreund René Char in der Provence.
4  Man Ray fotografiert Alice Apfel 1930 in Paris.
5  Alice Apfel lernt 1931 auf Hiddensee den Komponisten Franz Wachsmann kennen.
6  Alice Waxman 1939 im Garten ihres Hauses in Los Angeles.

VORVORVORGESTERN…

Es ist ein Zurückblicken über die linke Schulter, vorsichtig, immer die Warnung im Kopf, die Lots Weib verbot, anzuhalten und zurückzuschauen. Eine Warnung, der sie sich widersetzte und zur Salzsäule erstarrte. Ein Reflex der irrlichternde Bricolage des eigenen Lebens, die man, im Kopf vielfältigen revidierend, immer wieder zu einem neuen Ganzen zusammenfügt, die sich dann zu unsem gegenwärtiges Ich formt. Unwillkürlich erinnert man sich an Arthur Rimbauds “Je est un autre”. Lyrische Selbstbemessung und Selbstvergewisserung, fast 40 Jahre alt. Manch Lied aus uralten Zeiten kommt in den Sinn. Und so soll es sein.

Gestern wie heute: Mein Foto des Schlachterwagens (Titelbild) aus der Rue St. Jacques in Paris. Noch immer Schlachterei: Idyllen zum Ende/am Ende.

 Erweiterte Neuauflage des Gedichtbandes von 1980. 
 Pauline Heise, die Großmutter. 
3  Kindheit. Vor dem Haus der Großmutter.
4  Links Bořek Šípek, Dietlinde W., rechts Heinrich Schwing 1976.
 Heinrich Schwing, Dänemark 1976.
 Heinrich Schwing, Ibiza 1978.

MEIN OPIUM…

Carmen S.: Ewald und ich, wir kennen uns seit zwei Jahren. Bei einer Lesung von Günther Grass in der Buchhandlung Großmann, in der ich arbeite, haben wir uns kennengelernt. Er war damals oft dort. Vier Wochen waren wir jede Nacht zusammen. Es war eine schöne Zeit. Dann erfuhr ich erst, daß er verheiratet ist und zwei Kinder hat. Er hat es mir nicht selbst gesagt. Aber ich war völlig verschossen. Auch als seine Frau wieder aus den Ferien kam; ich habe versucht Schluß zu machen, ich schaffe es nicht. Wenn wir uns acht Tage nicht sehen, kommt er wie ein geprügeltes Tier, dann fängt alles wieder an. Im Herbst, als er mit seiner Familie an der Ostsee war, hatte ich eine Affaire mit so einem Taschenbuchfritzen. Es hat nichts geholfen, und zu Ewald habe ich davon nichts gesagt. Wir harmonieren einfach, nein, nicht nur sexuell, wenngleich das für uns sehr wichtig ist. Ewald nennt das “mein Opium.” Seiner Frau ist es am liebsten, er läßt sie in Ruhe. “Sexuell ist bei uns alles aus”, sagt er immer wieder. (Auszug)

 Druck eines Schauspiels (1978) von Heinrich Schwing. 
2-6  Beispielseiten.

DARF ICH DIR SAGEN, DASS ICH
GRENZENLOS GLÜCKLICH BIN…

Juni 1933. So schildert ein Bewohner des Hotels Ansônia die Ankunft Alfred Apfels in Paris nach seiner Flucht aus Deutschland: “ Herr Apfel zog dann später auf eins der kleinen Zimmer, die ich im Dachgeschoß bewohnte, da waren nämlich vier kleine Zimmer, die kein eigenes Bad hatten. Und eines davon hatte dann später Herr Apfel, ein sehr angesehener Anwalt aus Berlin, eines hatte ich, eines hatte ein Mädchen aus München, an die ich mich sehr gut erinnere, denn sie ließ leere Weinflaschen da, die konnte ich eintauschen und mir ein Stück Brie-Käse dafür kaufen. Und das vierte Zimmer bewohnte ein Mann, ein ziemlich dicker Mann, der im Nachthemd zu dem einzigen Badezimmer ging. Und das war angeblich der Bruder des Königs Hugo von Albanien.” Sechs Jahre zuvor, im Frühjahr 1927 hatte Alfred Apfel an seine Tochter geschrieben:

   Meine geliebte Hannah! […] Darf ich Dir sagen, daß ich grenzenlos glücklich bin? Daß ich fest überzeugt bin, einen wirklich nützlichen Schritt getan zu haben? Daß ich bestimmt glaube, endlich, endlich die Ruhe, die Energie, Anregung gefunden zu haben, derer ich bedarf?Nach einer zweiten vielstündigen Unterredung, die ich am Sonntag, gemeinsam und einzeln mit Alice, mit Dr. Kronfeld hatte, habe ich mich fest entschlossen, den Schritt zu tun, der mir natürlich nicht leicht fiel. Kronfelds Prophezeiungen treffen buchstäblich ein: Eine Wandlung in unser beider Wesen, die wundersam ist. Ich muss Dir nach meiner Rückkehr viel, viel Interessantes erzählen. Einzelne und gemeinsame Sitzungen mit einem Psychiater vor der Eheschließung, damit eine Wandlung eintritt. Welche Wandlung und wozu, die zu erreichen vielstündige Unterredungen erfordern, fragt sich der Leser? Und was meinte er, wenn er schrieb, dass ihm dieser Schritt natürlich nicht leicht fiel?

   Diesen Wandlungen im Leben Alfred Apfels spürt der Biograf nach, mit ihren wundersamen und grausigen Wendungen, den Lebens-Wegen und Orten im Leben Alfred Apfels: von der Kölner Elisenstraße, wo er aufwuchs, in die exquisiten Hotels Europas, in denen er über Jahrzehnte  logierte, in seine prachtvolle  Anwaltspraxis in bester Lage in der Friedrichstrasse, die er gleich nach seiner Übersiedlung 1910 nach Berlin bezog –  und nun im schlechtesten Zimmer des Hotels, ohne Bad.

 Eine Biografie zu Alfred Apfel. 
2 – 4  Porträts von Alfred Apfel. 
 Alfred Apfel auf Hiddensee, 1924.
 Alfred Apfel bei der Verabschiedung
Carl von Ossietzkys vor dem
Gefängnis Berlin-Tegel, 10. Mai 1932.

»Ich habe Heine für mich entdeckt« …

Ende Mai 1939, vierzehn Tage vor ihrer Emigration, schrieb Hannah Busoni, die Tochter Alfred Apfels, an ihren Mann. “Ich habe Heine für mich entdeckt. In jeder freien Minute lese ich Heine, völlig fasziniert, bewundernd, begeistert und hingegeben. Mit Ahnenstolz.”

Es ist kein Zufall, dass es auch ihren Vater 1933 in Paris, nachdem er aus Deutschland geflohen war, als erstes ans Grab Heinrich Heines zog. Alfreds Mutter Rahel, von deren dichterischer Begabung ihr Sohn sprach, hatte diesen Vorfahr nicht nur als Bild in der Wohnung immer vor Augen.

Von ihren Großeltern erzählte Rahels Bruder: “Mein Grossvater Isaac Abraham Bürger war am 8. Februar 1789 geboren. Trotzdem ich bei seinem Tode (16. Juni 1864) nicht viel mehr als 3 Jahre alt war, erinnere ich mich noch lebhaft, dass ich jeden Samstag zu ihm ging, um mich segnen zu lassen und ihm am Laubhüttenfest das Lulow (Palmzweig) an sein Krankenbett brachte. Er soll ein sehr kluger, ernster und tief religiöser Mann gewesen sein, mit gründlichen Kenntnissen der alt-hebräischen Literatur. Nicht nur bei seinen Mitbürgern und Religionsgenossen, sondern auch in weiteren Kreisen genoss er hohes Ansehen. Als seine Wünsche und Bestrebungen für Gleichberechtigung der Juden sich der Erfüllung näherten, nahm er für sich und seine Familie im Jahre (um 1847) auf den Vorschlag meines Vaters den Zunamen Bürger an. […] vom später so berühmten Vetter Heinrich Heine erzählte sie [die Großmutter Ella Cahen], wie er als munterer Bonner Student öfters die Verwandten im nahen Siegburg besucht habe. […] Ihr Oheim Elieser vermachte seine grosse hebräische Bibliothek meinem Vater.”

“Grosse Tatkraft, Intelligenz und eine seltene Selbstlosigkeit, gepaart mit dem Willen für die Allgemeinheit Nützliches zu schaffen, gaben meinem Vater [Samuel Isaac Bürger] in der Heimat bald eine geachtete Stellung. Schon früh (1852) wurde er Mitglied des Stadtrates, der ihn später zum beigeordneten Bürgermeister wählte, Ehrenämter, die er bis zu seinem Tode mit grösster Gewissenhaftigkeit bekleidete. Besonderes Interesse hatte er für das Schulwesen und hatte das von ihm 1867 in Düsseldorf, später in Köln mitbegründete jüdische Lehrerseminar für das Rheinland einen treuen Förderer an ihm. Nichts gab ihm mehr Befriedigung, wie wenn er anderen mit Rat und Tat helfen konnte und von weit her kamen Leute, um sich mit ihm über allgemeine oder persönliche Angelegenheiten zu beraten. In der 1848er politischen Bewegung war mein Vater einer der Hauptredner in dem konstitutionellen Bürgerverein seiner Vaterstadt, der für Deutschland eine Verfassung nach englischem Muster erstrebte. Oft erzählte er von den Erlebnissen des »Siegburger Zeughaussturmes« von Kinkel, Schurz, dem Roten Becker, Karl Marx und den anderen rheinischen Revolutionsführern. Leider hat meine Grossmutter zur Zeit der Demagogenverfolgung und Reaktion die von meinem Vater auf einer längeren um 1848 durch Deutschland gemachten Reise nach Hause gesandten, ihrem Ermessen nach allzu freisinnigen Berichte vernichtet.”

 Eine jüdische Familiengeschichte. Von der Emanzipation bis zur Verfolgung. 
 Isaac Abraham Bürger und seine Ehefrau Ella Cahen aus Siegburg. 
3  Simon und Rahel Apfel, geboren Bürger, (Eltern Alfred Apfels) auf Hochzeitsreise.
4  Else Apfel, geb. Rosenberger, mit ihren Zwillingen Ruth und Aenne in Köln.
 Yanka und Felix, Kinder von Caroline Moskowitz (Schwester Alfred Apfels).
 Köln 1922. Samuel (Bruder Alfred Apfels) und Toni Apfel mit ihrer Tochter Irmgard.

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